Miriam Meckel, Chefredakteurin der “Wirtschaftswoche”, erklärt im Containerhafen Duisburg die Globalisierung – und scheut fürs turi2-Fotoshooting und -Video weder große Höhen noch die bedrohliche Nähe eines Radladers. Wir haben das Interview transkribiert. Wir starten damit eine Serie von 22 Videos, die wir für die Titelproduktion “Deutschland liest” der turi2 edition3 gedreht haben.
Miriam Meckel, Sie kennen wahrscheinlich das Zitat von Kurt Tucholsky: “Was die Lage der Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.” Wer erklärt uns diese Verflochtenheit?
Kurt Tucholsky hat recht: Die Welt ist verflochten, die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen. Ich glaube, niemand erklärt uns die Verflochtenheit ganz, weil sie so kompliziert, so komplex ist, dass man sie gar nicht im Ganzen erklären kann. Aber viele versuchen es: Die Wissenschaft versucht es, Ökonomen versuchen es und wir als “Wirtschaftswoche” versuchen es natürlich auch.
Ist die Globalisierung Segen oder Fluch?
Wenn wir beide uns unterhalten, würden wir vielleicht zu dem Ergebnis kommen, sie ist Segen, sie gehört eben zur modernen Wirtschaft dazu. Wir profitieren davon, die westliche Welt, die entwickelten Staaten profitieren davon. Insgesamt bin ich eine Verfechterin von Freihandel. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es Globalisierungsverlierer gibt. Wenn Sie in die Favelas in Südamerika gehen, dann sehen Sie, dass Globalisierung eine dunkle Seite hat. Trotzdem ist die Globalisierung im Ganzen eine richtige und gute Entwicklung, von der wir in der Mehrheit profitieren.
Es gibt viele Fragen zur Globalisierung. Muss die Chefredakteurin der “Wirtschaftswoche” auf jede Frage eine Antwort haben?
Nein, auf keinen Fall. Ich glaube, im Gegenteil: Sie muss sich mit jeder Frage, die auftaucht, beschäftigen, sie sollte neugierig sein, das tun zu wollen. Wenn Sie behaupten würde, sie hätte auf jede Frage eine Antwort, dann wäre sie größenwahnsinnig und keine gute Chefredakteurin.
Der zweite große Trend ist die Digitalisierung – ist die Segen oder Fluch? Für Sie?
Ich glaube, dass die Digitalisierung in jedem Fall ein Segen ist. Sie ist eine unfassbare Chance, Dinge weiterzuentwickeln, Neues zu erfinden. Auch da geht es darum, dass wir diskutieren, wo auch Dinge schieflaufen und daraus Konsequenzen ziehen. Ich selber profitiere enorm von der Digitalisierung. Wir haben nie eine Welt gehabt, wo wir so viel Wissen und Informationen zugänglich hatten, wie das heute der Fall ist. Aber wir müssen es gestalten.
Und für die Verlage?
Die Verlage haben es schwer, auch weil sie zu lange gedacht haben, sie würden Papier verarbeiten und nicht Informationen. Das hat sich längst geändert, aber der Prozess dauert an. Für unsere Geschäftsmodelle, für unsere Wertschöpfung ist die Digitalisierung eine echte Herausforderung.
Die Gefahr ist, dass Leser weggehen von Print und sich online woanders informieren.
Wir müssen schon unterscheiden, wo die Leser hingehen. Sie gehen ja nicht alle weg von dem Magazin, sie nutzen es nur zunehmend als E-Paper, als digitales Produkt. Und das ist ja vollkommen in Ordnung. Ob jemand gedruckt lesen will oder digital ist mir erstmal egal. Hauptsache, er mag das Produkt, das durch eine professionelle journalistische Redaktion erstellt ist. Und ich glaube, dafür gibt es weiter Bedarf. Wir leben ja in einer Informationsflut, wo jeder eigentlich überfordert ist, sich in diesem ganzen Wust die Dinge rauszusuchen, die wichtig sind. Dafür sind Medien da, die müssen ihre Arbeit immer wieder überprüfen und gucken, ob sie in der Zeit richtig liegen. Aber die Nachfrage ist da. Ich glaube auch daran, dass das Papier bestehen bleibt. Ich glaube, es wird weniger werden, es wird ein eher elitäres, teureres Produkt werden. Damit müssen wir umgehen.
Wie stellen Sie persönlich sich auf die Digitalisierung ein?
Ich probiere alles aus, was neu auf den Markt kommt, schaue mich frühzeitig um, um die Entwicklungen einschätzen zu können. Und ich habe einen spielerischen Zugang. Nicht alles, was im Markt entsteht, muss man ernst nehmen, und Ernsthaftigkeit ist nicht der einzige Ansatz, um Digitalisierung zu verstehen. Es macht doch Spaß, zum ersten Mal mit einem Chatbot zu reden. Ich will wissen, warum die Menschen auf den Straße rumlaufen und virtuelle Monster jagen, auch um zu beantworten: wo sind unsere Pokemons in der Medienwirtschaft?
Welche Strategie verfolgt die “Wirtschaftswoche”?
Mutig sein und Dinge ausprobieren.
Warum braucht die “Wirtschaftswoche” neben einem Wochenmagazin und einer Website eigentlich einen Club?
Weil sich die Medienwelt auch hier ändert. Unsere Leserinnen und Leser sind nicht länger Informationsempfänger, waren es vermutlich nie, aber vor zwanzig Jahren hat das niemanden interessiert. Jetzt interessiert uns sehr, was sie denken. Wir möchten mit ihnen ins Gespräch kommen, unsere Experten und unser Redaktionsteam mit ihnen ins Gespräch bringen und auch Plattform für den Austausch der Leser untereinander sein. Klassisches Abo war also gestern, heute ist es der Club, die analog-digitale Version der Community: eine Gemeinschaft, die sich im Internet, aber auch im realen Leben zu allen Fragen der Wirtschaft austauscht.
Warum ist Live-Journalismus so ein enormes Wachstumsfeld geworden?
Weil das Erlebnis zählt. Die Menschen lesen ja auch noch, daran hat sich gar nicht viel geändert. Aber wir vollziehen jetzt nach, was andere Industrien nach langen Lernprozessen auch gemacht haben: zurück von der Produkt- zur Erlebnisorientierung. Warum floriert in die Musikbranche der Konzert- und Festivalbetrieb? Weil es toll ist, live dabei zu sein. Wenn ich die Menschen live erleben kann, mit ihnen sprechen kann, über die ich sonst nur lese, dann ist das ein Mehrwert, den wollen wir für den Journalismus ebenfalls wertschätzen und heben.
Muss auch eine Magazin-Chefredakteurin heutzutage ein Moderatorin und Entertainerin sein?
Nö, muss sie nicht, schadet aber nicht, oder sagen wir: hilft, gerade wenn es um Live-Journalismus geht.
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Der Beitrag turi2 edition3: “Wiwo”-Chefin Miriam Meckel über die Ambivalenz der Globalisierung. erschien zuerst auf turi2.